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Mutmaßliche Gewalt an der Ungarischen Grenze

Im vergangenen Jahr hat das „Balkan Investigative Reporting Network“ auf seiner Website „Reporting Democracy“ von internen Dokumenten der europäischen Grenzschutzagentur berichtet, die beweisen sollen, dass die oberste Führungsebene über Misshandlungen gegenüber Schutzsuchenden gewusst und diese aktiv ignoriert hat.

Eine Gruppe Grenzschutzbeamter soll 2016 nachts mit zumindest einem Hund „irreguläre Migranten“ an der südlichen Grenze zu Serbien verfolgt haben. Unter anderem soll ein von Frontex gestellter Hundeführer an dieser Aktion beteiligt gewesen sein. Derartige Aktionen soll es bereits seit 2015 gegeben haben. In besagter Nacht im Oktober 2016 wurde die Truppe von einer Person, die aus dem Gebüsch sprang, erschreckt und der Hund biss zu. Dies lässt sich einem internen Bericht von Frontex entnehmen. Es wurde keine Untersuchung eingeleitet, die ungarische Polizei stufte den Vorfall als „Zufall“ ein. Die Frontex-Grundrechtsbeauftragte Inmaculada Arnaez äußerte Bedenken. Einen Monat später gab das Frontex-Konsultativforum die Empfehlung ab, die Aktivitäten an der ungarisch-serbischen Grenze auszusetzen. Der Europarat, das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen und die EU-Agentur für Grundrechte, alle Mitglieder des Konsultativforums, baten darum, sich bei der Abgabe dieser Empfehlung zu enthalten. Leggeri entschied sich aufgrund mangelnder Beweislage dagegen, dieser Folge zu leisten. 2019 wurde erneut eine derartige Empfehlung ausgesprochen.

Im Dezember 2016 sollen ungarische Grenzbeamte einen Polizeihund auf eine Gruppe junger – teilweise minderjähriger – afghanischer Geflüchteter losgelassen haben. Drei von ihnen sollen von dem Hund gebissen worden sein. Beamte sollen die Menschen im serbischen Hoheitsgebiet verfolgt und mit Pfefferspray und Schlagstöcken verletzt haben.

Das „Balkan Investigative Reporting Network“ gibt an, aus internen Frontex Dokumenten entnommen zu haben, dass es innerhalb der Agentur Meinungsverschiedenheiten über die Rolle von Frontex bei der Unterstützung ungarischer Truppen gab, die im Herbst 2016, nachdem neue Rechtsvorschriften durch Ungarn eingeführt wurden, gipfelten. Die neuen Regelungen erlaubten Grenzschützer:innen, Geflüchtete in einem Umkreis von 8 km an der Grenze zu Serbien abzufangen und zurückzubringen. Im Juli 2016 sollen laut Angaben der ungarischen Polizei 1.701 Menschen auf diesem Weg nach Serbien gebracht worden sein. Das Frontex-Beratungsgremium gab deshalb Ende 2016 ebenfalls die Empfehlung ab, Operationen an der ungarisch-serbischen Grenze auszusetzen. Diese wurde durch Exekutivdirektor Leggeri abgelehnt. Auch Inmaculada Arnaez warnte wiederholt vergeblich vor möglicher Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen. Schlussendlich wurde das Engagement von Frontex an der ungarisch-serbischen Grenze eingeschränkt. Frontex-Beamt:innen wurde der ausdrückliche Auftrag gegeben, das Begleiten von Schutzsuchenden in „Transitzonen“ den ungarischen Behörden zu überlassen. Gleichzeitig wurden von Ungarn 3.000 bewaffnete Grenzschützer:innen – bekannt als „Grenzjägereinheiten“ – eingesetzt, um die neuen Grenzschutzmaßnahmen in Kraft zu setzen. In Ungarn gab es damals mindestens 44 Ermittlungen zu mutmaßlichen Übergriffen ungarischer Grenzbeamt:innen, die ungarische Polizei gab zu, dass es an der Grenze zu „übermäßiger Gewaltanwendung gekommen sein könnte“. Bei Patrouillen wurden diesen von Frontex-Einheiten unterstützt. Zur Verfolgung von Menschen, die versuchten über den Grenzzaun nach Ungarn zu klettern wurden unter anderem Hunde eingesetzt. Laut Frontex sind alle von der Agentur beauftragten Beamte an einen strengen Verhaltenskodex gebunden und zur Einhaltung der Grundrechte verpflichtet.

Frontex Mitarbeiter:innen sind außerdem dazu verpflichtet, über schwerwiegende Vorfälle und Unregelmäßigkeiten zu berichten und sogenannte „Serious Incident Reports“ zu verfassen. Die geringe Anzahl solcher SIRs nutzte Direktor Leggeri, um sich gegenüber dem Vorwurf, Beweise von Organisationen zu missachten, rechtzufertigen. Statistiken zeigen, dass solche Berichte nur selten eingereicht werden, selbst wenn es Vorfälle gibt, die solche erfordern. Auf Anfrage betont die Agentur, dass sie gemäß der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache von 2016 keine Ermittlungsbefugnis innehat.

2017 gaben Vertreter:innen von MSF gegenüber Frontex an, zwischen März 2016 und Februar 2017 106 Fälle „vorsätzlicher Verletzungen“ behandelt zu haben, die mit gemeldeten Gewaltakten durch die ungarischen Behörden übereinstimmen. Leggeris Antwort darauf soll, Angaben eines MSF-Vertreters zufolge, ein Verweis auf fehlende SIRs gewesen sein. Auf Anfrage, gab Frontex gegenüber dem „Balkan Investigative Reporting Network“ an, ungarische Behörden seien den Vorwürfen nachgegangen, hätten diese aber für nicht glaubwürdig befunden.

Arnaez hat sich 2017 selbst ein Bild der Frontex-Operation in Ungarn gemacht und in Folge erneut Bedenken aufgrund von Beihilfe zu Verstößen geäußert. Sie äußert Sorge, dass Frontex potenziell zu Kettenabschiebungen und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung beiträgt.

Das „Balkan Investigative Reporting Network“ betont das beunruhigende Maß an Straffreiheit, das Frontex-Beamten durch Vereinbarungen mit Regierungen der westlichen Balkanländer gewährt wird. Frontex ist in den letzten Jahren laut Expert:innen zu einer der mächtigsten Agenturen der Europäischen Kommission geworden.

Momentan muss sich die Agentur mehrerer Anschuldigungen stellen, doch schon 2016 beziehungsweise 2017 wurden die Europäische Kommission und Frontex durch Menschenrechtsorganisationen wie UNHCR, MSF, Amnesty International, Human Rights Watch und das ungarische Helsinki-Komitee auf Gewalt durch ungarische Behörden, die mit der Agentur kooperierten, aufmerksam gemacht. Ein weiterer Vorwurf von damals betrifft den Zugang zu Asylverfahren, welcher Geflüchteten in Ungarn angeblich illegalerweise verweigert wurde. Auch darüber soll die Leitung der Agentur Bescheid gewusst haben.

Laut Catherine Woolard, der Direktorin des European Council for Refugees and Exiles, ist Frontex verpflichtet, Grundrechtsverletzungen nicht nur zu verhindern, sondern die Einhaltung dieser auch zu fördern – wird dies nicht eingehalten, kann die Agentur haftbar gemacht werden.

Frontex verwaltet ein mit 3,4 Millionen dotiertes Programm, das in westlichen Balkanländern bei der Identifizierung und Registrierung von Geflüchteten helfen soll. Auch in Balkanländern außerhalb der EU wie Albanien ist Frontex aktiv.

Quelle:

https://balkaninsight.com/2020/02/06/frontexs-history-of-handling-abuse-evidence-dogs-balkan-expansion/

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