Ian Urbina, Gründer des Outlaw Ocean Projects, berichtet im New Yorker von Schicksalen Gefangener in Libyen, die er während eines Aufenthaltes in Tripoli interviewt hat. Sein Bericht folgt unter anderem Aliou Candé aus Guniea-Bissau, der 2019 versuchte, nach Europa zu gelangen. Ursprünglich führte ihn sein Weg über die Sahara nach Marokko. Von dort aus konnte er sich aber die Überfahrt nicht leisten und versuchte stattdessen von Libyen aus nach Italien zu gelangen. Aliou Candés Boot wurde nach vielen Stunden von der sogenannten Libyschen Küstenwache aufgegriffen und die Menschen zurück nach Libyen in eines der Gefängnislager gebracht. Erzählungen zufolge werden ungefähr 200 Personen in eine der acht Zellen gezwängt, es gibt kaum Platz zum Sitzen, Deckenlampen leuchten die ganze Nacht, Tageslicht gibt es kaum. Leistet jemand Widerstand, wird die Person in einer ehemaligen Tankstelle ohne sanitäre Anlagen isoliert, an der Decke festgebunden und geschlagen. Wachen schüren angeblich auch Auseinandersetzungen unter den Geflüchteten. Mitarbeiter:innen einer Hilfsorganisation berichteten von Personen mit Prellungen und Schnittwunden, die Augenkontakt vermieden haben und vor lauten Geräuschen zurückgeschreckt sind. Die Zelle, in der Aliou Candé festgehalten wurde, konnten sie während eines Besuchs gar nicht betreten, weil laut einer Schätzung ungefähr drei Gefangene pro Quadratmeter untergebracht waren. Fälle von Tuberkulose und Covid-19 wurden festgestellt.
Berichten zufolge wird auf unterschiedliche Arten Profit aus den Gefängnissen geschlagen. Spenden von Hilfsorganisationen werden abgezweigt, ein Prozess, der “aid diversion“ genannt wird. Ein Gesetz aus al-Gadaffis Zeiten erlaubt es, „unautorisierte Ausländer:innen“, also Geflüchtete, Asylwerber:innen und Opfer von Menschenhandel, unabhängig von ihrem Alter unbezahlt arbeiten zu lassen. Geflüchtete können von den Gefängnissen wie auf einem modernen Sklavenmarkt verkauft werden. Aber die vielleicht am häufigsten angewandte Methode, aus den Geflüchteten Geld zu machen, ist Erpressung. So können sie sich zwar aus ihrer Gefangenschaft „freikaufen“, werden aber häufig erneut aufgegriffen und in andere Lager gebracht, sodass sich eine Person oft mehrmals „freikaufen“ muss.
Laut libyschem Gesetz können „nicht-autorisierte Ausländer:innen“ auf unbegrenzte Zeit und ohne Zugang zu juristischer Beratung festgehalten werden. Fünfzehn „Auffanglager“ werden momentan offiziell anerkannt. Frauen berichten von Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt, mehrere Menschen erzählen von Folter, darunter auch Elektroschocks. Das Gefängnis, in dem Candé untergebracht wurde, wird von einer libyschen Miliz betreut, die sich „Public Security Agency“ nennt. Die Interviewten berichteten: Pro hundert Personen gibt es nur je eine Toilette, die dünnen Schlafmatten sind so wenige, dass die Menschen sich nur abwechselnd hinlegen können. Zweimal am Tag wird im Hof des Gefängnisses Essen in Schüsseln auf den Boden gestellt, aus denen je fünf Menschen essen. Wer nicht folgt, wird geschlagen, es gibt Vermutungen, dass die Verstorbenen neben dem Gefängnis “entsorgt” werden. Ein Schutzsuchender berichtet von einer Gruppe, denen die Flucht aus dem Gefängnis gelungen ist. Diejenigen, die zurückblieben, ernteten Schüsse und Schläge durch die Wachen. Ghreetly, der Leiter des “Al Mabani” Gefängnisses, leugnet jede Anschuldigung von Gewalt.
In der Nacht vom 8. April gab es erneut einen Ausbruchsversuch. Nach mehreren Stunden schritten die Wachen ein und begannen mit halbautomatischen Waffen in die Menge zu schießen. Candé starb durch einen Genickschuss. Sein kleiner Bruder, der um die Umstände in Libyen und Alious Tod Bescheid weiß, plant sich trotzdem auf den Weg zu machen. Ihm bleiben kaum andere Möglichkeiten. Der Leiter des Camps wurde nach dem Vorfall kurzzeitig suspendiert, Ärzte ohne Grenzen beendete die Unterstützung der Menschen in Al Mabani, um das System nicht zu erhalten, nahm die Mission aber wieder auf, nachdem versichert wurde, dass weitere Gewalttaten verhindert würden. Bereits im Oktober gab es einen erneuten Einsatz von Schusswaffen gegen Schutzsuchende, die versuchten, aus dem Gefängnis zu fliehen. Zumindest sechs wurden dabei getötet.
Viele der Busse, mit denen die Küstenwache die Geflüchteten in die „Auffanglager“ bringt, wurden von der EU bereitgestellt, manchmal sollen Einheiten der Küstenwache die Menschen auch an die „detention centers“ verkaufen. Aber es wird vermutet, dass es gar nicht alle in die Lager schaffen. Federico Soda, der Chef der IOM-Mission in Libyen, glaubt, dass viele der Schutzsuchenden in inoffizielle Zentren von Menschenhändlern und Milizen gebracht werden. Bis Juli zählte IOM, die International Organization for Migration, mehr als 15.000 von der sogenannten Libyschen Küstenwache aufgegriffene Personen, aber nur 6.000 Menschen befanden sich in den offiziellen Lagern. In den ursprünglichen Verträgen sicherte Italien Hilfe bei der Unterbringung von Menschen auf der Flucht in Libyen zu. Heute geben offizielle Stellen der EU an, dass diese lediglich „lebensnotwendige Unterstützung von Migrant:innen und Geflüchteten in Gefangenschaft“ bereitstellt. Der ehemalige libysche Justizminister sagt: „Das, was die EU da geschaffen hat, war genau überlegt und seit Jahren geplant: In Libyen eine Hölle zu errichten, um Menschen vor der Flucht nach Europa abzuschrecken.“
Die sogenannte Libysche Küstenwache, die selbst auch in Verbindung mit Milizen steht, wurde zu großen Anteilen von der EU ausgerüstet und ausgebildet. Die libysche Such- und Rettungszone reicht circa 160 Kilometer von der Küste ins Meer – das ist mehr als die Hälfte der Strecke zur italienischen Küste. In diesem Bereich ist Libyen dafür verantwortlich, Boote in Seenot aufzugreifen und berechtigt, solche zurückzuholen. Urbina schreibt, dass die vermutlich wichtigste Unterstützung der sogenannten Libyschen Küstenwache durch die Europäische Grenzschutzagentur Frontex bereitgestellt wird. Die Agentur überwacht das Mittelmeer fast dauerhaft mit unbemannten Drohnen und privat gecharterten Flugzeugen. Wird ein Boot gesichtet, werden Fotos und Koordinaten an nationale Organisationen weitergegeben, in den allermeisten Fällen aber nicht an NGOs und Seenotrettungsorganisationen. Frontex bestreitet eine direkte Zusammenarbeit mit Libyen, aber eine Recherche mehrerer Medien, über die wir bereits berichtet haben (Der blutige und dreckige Deal mit Libyen, Frontex und die libysche Küstenwache, Kooperation zwischen Frontex und der sogenannten Libyschen Küstenwache und Nachrichtenverläufe bestätigen Zusammenarbeit von Frontex mit der libyschen Küstenwache) hat zwanzig Fälle dokumentiert, in denen Frontex mutmaßlich Boote gesichtet hat, die später von der sogenannten Libyschen Küstenwache aufgegriffen wurden. Manchmal werden laut Angaben des Rechercheteams Informationen auch direkt per WhatsApp an die libyschen Behörden gesendet. Dies widerspricht dem Non-Refoulement-Prinzip, das besagt, dass Geflüchtete nicht in Länder zurückgewiesen werden dürfen, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Es ist unter anderem in der Genfer Flüchtlingskonvention, der UN-Antifolterkonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Ian Urbina berichtet auch, auf Anfrage die Information erhalten zu haben, dass zwischen dem 1. und dem 5. Februar 2021, als Candé versuchte, nach Italien zu gelangen, 37 E-Mails zwischen Frontex und der Libyschen Küstenwache ausgetauscht wurden. Die Inhalte dieser Mails wurden nicht geteilt. Ein anonymer Mitarbeiter der EU-Agentur berichtet, dass Frontex Überwachungsvideos für die Italienische Küstenwache und das italienische maritime Rettungs-Koordinations-Zentum streamed. Er geht davon aus, dass diese die Informationen an die sogenannte Libysche Küstenwache weitergeben. Berichte zeigen auch, dass die Besatzung der libyschen Boote immer wieder Warnschüsse auf die Boote der Geflüchteten und jene der Rettungsorganisationen abfeuert. IOM gibt an, dass in den vergangen vier Jahren mehr als 80.000 Menschen von der sogenannten Libyschen Küstenwache zurückgeholt wurden. Immer wieder kommen dabei auch Menschen ums Leben. Es scheint, als würde die Libysche Küstenwache eine Art Immunität genießen. Abdel-Rahman al-Milad, der Kommandant einer Einheit, wurde wegen Mangels an Beweisen freigesprochen, nachdem er zuvor auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates stand. Ein Reporter aus Urbinas Team verbrachte mehrere Wochen auf einem Rettungsboot von Ärzte ohne Grenzen und berichtete von vielen Fällen, in denen die libyschen Boote die Schutzsuchenden schneller erreichten. Manchmal soll auch eine IAI Heron, eine Frontex-Drohne gesichtet worden sein. Seit diesem Mai wurden erneut ungefähr 3,5 Millionen Euro von Italien und der EU an die sogenannte Libysche Küstenwache gezahlt. Von Italien erhielt die Küstenwache auch neue Technik zur Beobachtung – eine containerbasierte mobile Seenotleitstelle sowie drei Patrouillenschiffe. Die Seenotleitstelle ist laut IMO, der internationalen Seeschifffahrts-Organisation, eigentlich Voraussetzung dafür, dass Länder Such- und Rettungsmissionen durchführen dürfen. Die Betreuung der Seenotleistelle wird von einer der zwei libyschen Behörden zur maritimen Überwachung (die dem Innenministerium untergeordnete zivile Küstenschutzverwaltung und die dem Militär zugehörige Küstenwache) übernommen werden. Welche das sein wird, ist noch nicht bekannt. Die bis dato nicht erfolgte Neuordnung dieser Behörden ist unter anderem Aufgabe der „Mission zur Unterstützung des integrierten Grenzmanagements in Libyen“ (EUBAM Libyen), an der auch die EU-Kommission, der Auswärtige Dienst und Frontex teilnehmen. Auch für die mit 5,5, Millionen dotierte Anbindung Libyens an das EU-Überwachungssystem EUROSUR gibt es keine offiziellen Erfolgsberichte.
Muammar al-Gaddafi, der ehemalige libysche Diktator, unterschrieb 2008 ein Freundschaftsabkommen mit dem damaligen italienischen Premierminister Silvio Berlusconi, indem er zusagte, striktere Kontrollen durchzuführen. Dies verwendete er im späteren Verlauf immer wieder als Druckmittel gegen die EU. Seit seinem Sturz 2011 herrscht in Libyen politisches Chaos.
Mit der Angelobung von Marco Minniti als Italiens Innenminister hat sich die Europäische Asyl- und Migrationspolitik geändert. Italien beschränkte seine Such- und Rettungszone auf einen Radius von knapp 50 Kilometer, Seenotrettungsorganisationen wurden an italienischen, griechischen, spanischen und maltesischen Häfen abgewiesen und einige von ihnen wegen Menschenhandels angezeigt. Libyen wurde zum wichtigsten Partnerland der EU auserkoren.
Ian Urbina berichtet, im Zuge dieser Recherche mitsamt seinem Team entführt worden zu sein. Die Entführer, die angaben, vom Libyschen Geheimdienst zu sein, verdächtigten die Journalist:innen für die C.I.A. zu arbeiten. Nach sechs Tagen wurden sie aus der Haft entlassen und direkt in Folge ausgeflogen.
Quellen: