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Weitere Vorwürfe zu Pushbacks – Leggeri zurückgetreten

Der Spiegel, Lighthouse Reports und weitere Medienpartner berichteten erstmals 2020, dass die Europäische Grenz- und Küstenwachenagentur Frontex über illegale Push- und Pullbacks Bescheid gewusst und diese aktiv vertuscht haben soll.

In Folge gab es mehrere Untersuchungen, unter anderem durch die Frontex Scrutiny Working Group des Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneren des Europäischen Parlaments sowie mehrere Medienberichte. Aber erst die Untersuchung durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung Olaf scheint Folgen nach sich zu ziehen.

Erneute Spiegel-Recherchen, die vergangene Woche veröffentlicht wurden, legen nahe, dass Pushback-Vorfälle nicht nur bekannt waren, sondern auf der Plattform „Jora – Joint Operations Reporting Application“ mehr oder weniger dokumentiert wurden. Pushbacks wurden demnach „prevention of departure“ – also „Verhinderung der Ausreise“ genannt. Einträge wurden durch griechische Beamt:innen gemacht und überprüft, bevor sie in die Frontex-Zentrale in Warschau geschickt wurden. Dort hätten die Angaben durch Beamt:innen der Agentur validiert oder korrigiert werden müssen. Letzteres passierte allerdings nicht. Offiziell wurden Boote durch Frontex oder die griechische Küstenwache gesichtet. Informationen wurden durch die Zentrale im griechischen Piräus nach Ankara weitergeleitet und die Verantwortung damit an die Türkei abgegeben. Boote würden so ohne Einwirken Griechenlands abgefangen oder freiwillig in türkische Gewässer umkehren. Die Datenbank wurde also absichtlich frisiert, um Rechtsbrüche zu vertuschen.

Möglichkeiten, „illegale Grenzübertritte“ zu registrieren, also festzuhalten, wenn Boote die griechische Such- und Rettungszone erreichen, gibt es. Angewandt wurden diese allerdings nur, wenn es Personen gelang, in einem griechischen Camp registriert zu werden und einen Asylantrag zu stellen.

Aussagen von Einzelpersonen und Organisationen berichten, dass Schutzsuchende in vielen Fällen ihr Ziel erreichen, dort aber aufgegriffen und wieder am Meer ausgesetzt werden.

Dass die Dokumentation der Agentur oft falsch ist, wurde bereits durch den Frontex-Verwaltungsrat festgestellt. In einem Bericht wurde notiert, dass Angaben in zwei Fällen „inkonsistent“ seien und auch die interne Grundrechtsbeauftragte nannte die Angaben „fragwürdig“. Konsequenzen folgten aber keine.

Gegenüber dem Spiegel wollte sich Frontex nicht offiziell äußern. Griechenland hätte das Kommando. Pushbacks seien nicht Teil des Einsatzplans. Einzelne Beamt:innen und Mitarbeiter:innen des griechischen Grenzschutzes haben allerdings zugegeben, dass die Registrierung illegaler Pushbacks als „prevention of departure“ Routine sei.

Das Recherche-Team des Spiegel, der Lighthouse Reports, des SRF und „Republik“, sowie Le Monde erhielt auf Basis des europäischen Informationsfreiheitsgesetzes Zugang zu den internen Frontex-Datenbanken und konnte so die Aufzeichnungen der Agentur mit Foto- und Videomaterial von Pushback-Fällen abgleichen.

Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Europäische Küstenwachenagentur zwischen März 2020 und September 2021 mindestens in 22 Fälle, in denen insgesamt 957 Personen illegal zurückgewiesen wurden, verwickelt war. Durchgeführt wurden die Pushbacks durch die griechische Küstenwache. Es kann davon ausgegangen werden, dass die wahre Zahl der Pushbacks, die unter Beteiligung Frontex‘ erfolgten, höher ist.

Nicht nur Griechenland ist mutmaßlich für illegale Rückführungen verantwortlich. Die zivile Seenotrettungsorganisation Sea Watch hat gemeinsam mit FragdenStaat beim Gericht der EU eine Klage gegen Frontex eingereicht, weil diese sich weigerte, Dokumente über die Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache freizugeben. Konkret geht es um einen Vorfall im Juli 2021, als ein Pullback durch die sogenannte libysche Küstenwache stattfand, obwohl die Sea Watch 3, ein Schiff der Organisation, als nächstgelegenes Schiff für die Rettung der Personen zuständig gewesen wäre. Eine Frontex-Drohne soll das Boot der Geflüchteten zuvor dreimal umkreist haben. Sea Watch stellte eine Informatonsfreiheitsanfrage an Frontex. Die Agentur verweigerte die Einsicht. Laut Angaben von FragdenStaat sollen 90 % der an Frontex gestellten Anfragen verweigert werden.

Die Agentur mit einem Budget von 758 Millionen Euro ist in den vergangenen Jahren unter Führung des ehemaligen Exekutivdirektors Fabrice Leggeri, der seit 2015 im Amt war, massiv gewachsen und hat eine Reihe neuer Befugnisse gewonnen. Ab dem kommenden Jahr soll die Agentur über tödliche und nicht-tödliche Waffen verfügen. Das geht aus einem von Statewatch veröffentlichten Beschluss des Frontex-Verwaltungsrates hervor. Neben den Waffen beinhaltet die geplante Aufstockung außerdem persönliche Ausrüstung und Überwachungsausrüstung inklusive Drohnen, Schiffe, Fahrzeuge und Flugzeuge. Ein Bericht von FragdenStaat legt offen, wie sehr die Agentur von den Europäischen Mitgliedsstaaten abhängt. 2020 sind mehr als 80% der verwendeten Ausrüstung auf nationale Beiträge zurückzuführen.

Aufgrund der Medienrecherchen und nicht zuletzt der Ermittlungen durch Olaf kam Leggeri innerhalb der letzten Monate zunehmend in Bedrängnis. Der Ermittlungsbericht des Amts für Betrugsbekämpfung ist nach wie vor geheim. Bekannt ist, dass Vorwürfe gegen drei führende Beamte der Agentur erhoben wurden. Einer davon ist höchstwahrscheinlich Leggeri, dessen Büro durchsucht wurde. Ein anderer könnte Thibauld de la Haye Jousselin, Direktor der Frontex-Abteilung für Human Resources und Rechtsangelegenheiten, sein. Auch sein Büro wurde durchsucht. Das Amt für Betrugsbekämpfung gab an, zwei weitere Berichte veröffentlichen zu wollen.

Vergangene Woche hat Leggeri schlussendlich seinen Rücktritt angeboten. In dem veröffentlichten Schreiben nannte der ehemalige Direktor keine Gründe, beklagt aber mangelnden politischen Rückhalt und dass Frontex „in eine Art Menschenrechtsorganisation“ verwandelt werden sollte, die nationale Grenzschutzoperationen überwachen solle. Das sei laut seinem Verständnis nicht Aufgabe Agentur. Der Frontex-Verwaltungsrat bestätigte den Rücktritt vergangenen Freitag. Seinen Posten soll übergangsweise Aija Kalnaja, ehemalige Vizechefin der lettischen Polizei, übernehmen.

Sea Watch sieht darin die Problematik von Frontex nicht gelöst und fordert die Auflösung der Agentur. Die EU-Kommission weist derartige Forderungen zurück. Auch der österreichische Innenminister Gerhard Karner sieht große Notwendigkeit in „robuste[m] Außengrenzschutz[…]“. SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath fordert ein „Umdenken in der gesamten EU-Agentur“.

Quellen:

https://www.spiegel.de/ausland/frontex-in-illegale-pushbacks-von-hunderten-fluechtlingen-involviert-a-086f0e5a-0172-4007-b59c-7bced325cc75

https://ecre.org/frontex-leggeri-out-reportedly-over-olaf-scrutiny-as-new-investigation-points-to-cover-up-of-pushbacks-coast-guard-agency-is-arming-up-switzerland-sees-protests-ahead-of-referendu/

https://www.derstandard.de/story/2000135306467/frontex-chef-leggeri-bietet-ruecktritt-an

https://fragdenstaat.de/blog/2022/04/28/gemeinsam-mit-seawatch-ziehen-wir-gegen-frontex-vor-gericht/

https://orf.at/stories/3262690/

https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/frontex-eu-grenzschutzbehoerde-fabrice-leggeri

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