Bereits seit 2014 dokumentiert die Organisation Human Rights Watch Pushbacks durch die bulgarischen Behörden. Die Vorwürfe werden von Berichten anderer NGOs und Medien bestätigt. Eine Untersuchung des Todes von zwei irakischen Geflüchteten aus dem Jahr 2015 wurde von UNHCR gefordert. Im Februar 2022 wies der Hohe Flüchtlingskommissar der UN, Filippo Grandi, auf ein „beunruhigendes Muster von Drohungen, Einschüchterung, Gewalt und Demütigung hin“.
In einem kürzlich veröffentlichten Bericht schreibt die Organisation erneut, dass bulgarische Grenzbeamte Geflüchtete schlagen, ausrauben, entkleiden und unter Einsatz von Polizeihunden angreifen, bevor sie sie, ohne ihnen das Stellen eines Asylantrags zu ermöglichen, abschieben. Die Organisation hat zwischen November 2021 und April 2022 15 Männer aus Afghanistan, die Opfer von insgesamt 19 Pushbacks zwischen Sommer 2021 und April 2022 durch bulgarische Behörden waren, befragt. Vierzehn gaben an, bei Festnahmen in bulgarischem Hoheitsgebiet und/oder bei den Rückführungen in die Türkei geschlagen worden zu sein, zehn gaben an, dass ihnen ihre Habseligkeiten und ihre Kleidung abgenommen wurden, teilweise im Winter. Zwölf der Männer gaben an, dass Polizeihunde eingesetzt wurden, fünf davon, dass ein Hund sie oder jemand anderen gebissen habe, obwohl sie sich nicht bewegt hätten. Einer gab an, in seiner Gruppe hätte sich ein Mann befunden, der mit der Polizei bulgarisch sprach. Sie hätten ihm Fragen gestellt, bevor sie einen Hund auf ihn losließen. Zwölf der fünfzehn gaben an, direkt an die Grenze gebracht worden zu sein, drei erzählten, sie wurden in eine Haftanstalt gebracht, in der sie zwischen 24 und 72 Stunden festgehalten wurden, bevor man sie an die Grenze brachte. Alle drei berichteten, keinen Zugang zu einem Dolmetscher bekommen zu haben oder befragt worden zu sein. Zwei von ihnen sollen die Fingerabdrücke genommen worden sein, der dritte erzählt, fotografiert worden zu sein. Einer der Männer, denen die Fingerabdrücke genommen wurden, erzählte, diese auf einem Dokument abgegeben zu haben, das er nicht verstand. Übersetzt wurde es nicht, eine Kopie erhielt er ebenso wenig. Alle erzählten, keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, bekommen zu haben. Die Befragten berichteten von Männern in schwarzen Uniformen mit vermummten Gesichtern. Sie gehen davon aus, dass es sich um bulgarische Grenzpolizisten gehandelt hat.
Ein Geflüchteter berichtete, dass die Polizisten auch vier Frauen aus seiner Gruppe durchsuchten. Internationale Richtlinien besagen, dass Frauen von weiblichen Beamtinnen befragt und durchsucht werden müssen.
Die bulgarische Grenzwache ist verpflichtet, sich an internationale Standards für die Anwendung von Gewalt durch Vollzugsbeamt:innen zu halten. Die Richtlinien der Vereinten Nationen und die aktualisierten Leitlinien von 2020 besagen, dass Gewalt nur als letztes Mittel angewandt werden darf und Grundsätzen wie Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit entsprechen muss. Diese Kriterien sind auch im Ethikkodex der bulgarischen Polizei und in nationalen Rechtsvorschriften verankert.
Michelle Randhawa, Referentin für Geflüchteten- und Migrantenrechte bei Human Rights Watch erklärt: “Die bulgarischen Behörden drängen Migranten und Asylbewerber brutal und summarisch über die Landgrenze zur Türkei zurück“.
Human Rights Watch bat das bulgarische Innenministerium am 28. April in einem Schreiben um Stellungnahme. Dieses blieb unbeantwortet.
Am 15. März kontaktierte die Organisation den damaligen Frontex-Generaldirektor Fabrice Leggeri, bezüglich der Kenntnis der Agentur über Pushbacks in der griechischen Evros-Region. Frontex nahm dazu am 11. April Stellung und erklärte: “Alle Beamten, die an Frontex-Einsätzen teilnehmen, müssen den Frontex-Verhaltenskodex befolgen, der […] besagt, dass die Teilnehmer an Frontex-Einsätzen sich verpflichten, während ihrer gesamten operativen Tätigkeit und im Rahmen ihres Mandats und ihrer Befugnisse insbesondere schutzbedürftigen Personen und Personen, die internationalen Schutz suchen, Hilfe zu leisten“ und weiter “Alle von Frontex entsandten Beamten sind eindeutig dafür verantwortlich, Personen, die internationalen Schutz, medizinische Hilfe, unbegleitete Minderjährige, Opfer von Menschenhandel und andere Personen in einer schutzbedürftigen Situation benötigen, zu identifizieren und an die nationalen Behörden zu verweisen, damit sie angemessene Hilfe erhalten”. Darüber, wie viele Beamte der Agentur aktuell an der bulgarischen Grenze im Einsatz sind, gab Frontex keine Auskunft.
Die Europäische Grenz- und Küstenwachenagentur Frontex ist bereits seit geraumer Zeit in Bulgarien aktiv. 2016 waren nach Angaben der Agentur 192 Beamt:innen und Mitarbeiter:innen an den Grenzen zur Türkei und zu Serbien im Einsatz.
Zwei der Männer, die von Human Rights Watch befragt wurden, gaben an, in vier Fällen mit Frontex-Beamten in Kontakt gekommen zu sein, während die bulgarischen Behörden sie festhielten. Zwar soll die Präsenz der Frontex-Beamten das missbräuchliche Verhalten der nationalen Beamten gemindert haben, sobald diese nicht mehr anwesend waren, sei es aber noch schlimmer gewesen, bevor es schließlich zu Pushbacks gekommen sei.
Der bulgarische Innenminister Bojiko Raschkow erklärte im Juli 2021, das Land erlebe einen „erhöhten Migrationsdruck“. Einen Monat später berichteten die bulgarischen Medien, dass innerhalb der letzten beiden Tage des Monats fast 500 irreguläre Überfahrten aus Griechenland und der Türkei gestoppt wurden. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan kündigte die bulgarische Regierung an, zwischen 750 und 1.050 Soldat:innen zur Unterstützung der 1.000 bereits stationierten Grenzpolizist:innen an die Grenzen zu Griechenland und der Türkei zu entsenden.
Quelle:
https://www.hrw.org/news/2022/05/26/bulgaria-migrants-brutally-pushed-back-turkish-border