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NGO Front-LEX fordert Ende der Frontex-Aktivitäten in Griechenland

Frontex, die Europäische Grenz- und Küstenwachenagentur, hat in den vergangenen Monaten und Jahren viel Vorwürfe und Kritik entgegengebracht bekommen. Es liegen Beweise vor, dass illegale Pushbacks von der Agentur vertuscht wurden. Mediendokumentationen, Augenzeug:innenberichte und Berichte von Betroffenen selbst legen außerdem nahe, dass Frontex auch die Durchführung dieser Pushbacks unter anderem in Form von Informationen und Koordinaten, die selektiv an Behörden übermittelt wurden, unterstützt hat. Viele dieser Vorwürfe betreffen das griechische Hoheitsgebiet. Deshalb stand nach Rücktritt Fabrice Leggeris, des ehemaligen Frontex-Generaldirektors, die Frage im Raum, ob die Agentur ihre Mission in Griechenland beenden würde.

Leggeris Nachfolgerin, Aija Kalanja, die zuvor die stellvertretende Leitung innehatte, hat bisher davon abgesehen, die Aktivitäten in Griechenland zu beenden. Nun könnte Frontex aus diesem Grund vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geklagt werden.

Die niederländische Organisation Front-LEX hat ein 16-seitiges Aufforderungsschreiben an Kalnaja formuliert, in dem sie fordern, dass die Agentur Maßnahmen ergreift. Sie vertreten darin zwei Geflüchtete, die berichteten, Opfer von Entführung, Überstellung, Aussetzung auf See sowie Ausweisung geworden zu sein. Einer der beiden klagte Frontex auf Schadensersatz wegen rechtswidriger Handlung und Unterlassungen und konnte im Zuge dessen nachweisen, dass „[…] die Agentur durch ihren eigenen Exekutivdirektor Leggeri und die Arbeitsgruppe des Verwaltungsrats […] vorsätzlich und unentschuldbar Beweise für seine rechtswidrige Kollektivausweisung am 28. und 29. April 2020 verfälscht hat, indem sie ihren Standpunkt sieben Mal in Bezug auf eine einfache Tatsache änderte, die schließlich in der Klageschrift in der Rechtssache T-136/22 leicht bewiesen werden konnte – die Anwesenheit des Frontex-Überwachungsflugzeugs am Tatort.“

Front-LEX schreibt, dass unter anderem aufgrund der bisherigen Vertuschung davon auszugehen sei, dass die Verletzungen der Grundrechte und der internationalen Schutzverpflichtungen im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Agentur in der Ägäis vermutlich auch zukünftig anhalten würden. Deshalb ersuchen sie Kalnaja, die Mission in Griechenland auszusetzen oder zu beenden. Möglich wäre das im Rahmen des Agentur-internen Regelwerks, dessen Artikel 46 besagt, dass die Generaldirektion der Agentur jede Aktivität aussetzen oder beenden beziehungsweise schrittweise verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen kann (und soll), wenn anhaltende Rechtsverletzungen bestehen. Der Ermessensspielraum bezieht sich in diesem Fall auf die Art der Reaktion, nicht aber darauf, ob überhaupt Maßnahmen ergriffen werden. Auf Nachfrage äußerte sich Aija Kalnaja zum Artikel 46, indem sie ihn eine „stumpfe Waffe“ nannte, die verhindere, dass Frontex vor Ort wäre. Anwenden wolle sie die Regel deshalb nur im äußersten Fall. Abgesehen davon, dass anzuzweifeln sei, inwieweit die Anwesenheit der Agentur „deeskalierende oder präventive Effekte“ hätte, sei eine persönliche Bewertung der Sinnhaftigkeit absolut irrelevant, das Handeln gemäß der festgeschriebenen Richtlinien sei nicht optional, so Iftach Cohen und Omer Shatz, die Verfasser des Front-LEX-Schreibens.

“Wir möchten, dass dies das letzte Mittel ist, das wir anwenden, weil wir letztlich eine Veränderung der Kultur anstreben”, äußerte sich Kalnaja Ende Mai zum betreffenden Abschnitt des Regelwerks. Eine solche Veränderung bräuchte sowohl innerhalb von Frontex als auch in der EU allerdings Zeit.

 Kalnaja gab außerdem bekannt, dass Frontex-Mitarbeiter:innen sich aufgrund des Rufs der Agentur weigerten, zur Arbeit zu gehen. Frontex sei traumatisiert, so Kalnaja. Sie hat versprochen, die Agentur transparenter und rechenschaftspflichtiger zu gestalten sowie sicherzustellen, dass die Grundrechte eingehalten würden. Teil davon sei die bereits lang vorgesehene Einstellung aller 40 Grundrechtsbeobachter:innen. Empfehlungen dieser sowie solche des beratenden Forums, das sich aus zivilen Interessensgruppen zusammensetzt, müssten befolgt werden. Front-LEX zweifelt an der Aussage, die Kultur würde verändert. Sie schreiben, Menschenrechtsverstöße seien Teil von Frontex‘ Politik in der Vergangenheit unter Leggeri und auch Kalnaja, die seit 2018 einen Führungsposten besetzte und ab 2021 als Leggeris Vize fungierte, aber auch in Zukunft, solange die Leitung der Agentur keine Maßnahmen ergreift.

Front-LEX betont, dass nicht nur die Agentur und die griechischen Behörden, sondern auch die Beamt:innen der Agentur individuelle strafrechtliche Verantwortung für Operationen in der Ägäis tragen. Konkret beziehen sie sich auf die Beobachtungen des Komitees für das Verschwindenlassen von Personen (Committee on Enforced Disappearances – CED) zu Griechenland. Das Verschwindenlassen von Personen ist nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und kann von diesem verfolgt werden. Das CED hat, so Iftach Cohen und Omer Shatz, bereits Bedenken bezüglich der hohen Zahl an Geflüchteten, die im Mittelmeer und in der Evros-Region verschwunden sind, sowie die Hürden, die Angehörigen in den Weg gestellt werden, wenn sie nach den Verschwundenen suchen, geäußert. Besonders die hohe Zahl der unbegleiteten Minderjährigen, die nicht mehr aufzufinden sind, wird erwähnt.

Front-LEX hat Frontex 60 Tage Zeit gegeben, um auf das am Montag, 06.06.2022 verschickten Schreiben zu antworten. Eine Kopie wurde auch an die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, Monique Pariat, die Generaldirektorin für Migration und Inneres, und an Kharim Khan, den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, gesandt. Sollten keine Maßnahmen folgen, droht der Agentur eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof wegen „Untätigkeit“ in Anbetracht der Beweise für Pushbacks und andere Verstöße in Griechenland. Alternativ könnte laut EU-observer auch eine Nichtigkeitserklärung eingebracht werden. In diesem Verfahren kann jede Einzelperson oder juristische Person den Gerichtshof der Europäischen Union ersuchen, über die Rechtsmäßigkeit von EU-Rechtsakten zu entscheiden. „Der EuGH kann die Rechtmäßigkeit folgender Rechtsakte prüfen: […] Rechtsakte, die von Organen, anderen Stellen oder Agenturen der EU erlassen wurden, sofern diese Rechtswirkung gegenüber Dritten haben.“

In einer Mail äußerte sich Frontex nach Bitte um eine Stellungnahme, dass sich an der operativen Zusammenarbeit mit Griechenland nichts geändert hätte.

Anfang letzten Jahres gab es bereits einen Fall, in dem die Agentur eine Mission aussetzte, nachdem es über Jahre zu Menschenrechtsverletzungen gekommen war. Das Ende der Operationen in Ungarn erfolgte nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs wegen illegalen Pushbacks nach Serbien. Nachdem auf dieses Urteil keine Maßnahmen folgten, zog sich Frontex aus Ungarn zurück.

Quellen:

https://euobserver.com/migration/155148

https://media.euobserver.com/3274d87803a737f6730c3429750a22eb.pdf

https://euobserver.com/migration/155089

https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/annulment.html

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