Pushbacks, illegale Zurückdrängungen von Menschen auf der Flucht, sind seit vielen Jahren gängige Praxis der nationalen Grenzschutzbehörden an den europäischen Außengrenzen. Es gibt viele Belege für diese Vorgehensweise, in wenigen Fällen werden Konsequenzen gezogen.
Seit Ende Februar 2020 gibt es Dokumentationen einer erweiterten Form der Zurückweisungen durch die griechische Küstenwache. Drift-backs nennt die Rechercheagentur Forensic Architecture diese „neuen Pushbacks“. Menschen werden in griechischen Gewässern oder bereits nach ihrer Ankunft auf dem Festland oder den Inseln abgefangen, verhaftet, häufig geschlagen oder anderweitiger Gewalt ausgesetzt. Geld, persönliche Gegenstände, teilweise Kleidung, aber vor allem Handys werden ihnen abgenommen, ihr Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen, wird ihnen verwehrt. Sie werden oft gewaltsam auf sogenannte Rettungsinseln ohne Motor gedrängt und auf dem Meer ausgesetzt, sodass sie in türkische Gewässer treiben.
Forensic Architecture sammelte Aufzeichnungen über solche Drift-backs über den Zeitraum von zwei Jahren. Vom 28. Februar 2020 bis zum 28. Februar 2022 wurden 1.018 Drift-backs in der Ägäis dokumentiert. Mindestens 27.464 Personen wurden Opfer dieser illegalen Zurückweisungen.
Die Informationen, die auf einer interaktiven kartografischen Plattform nachzulesen sind, sind Ergebnis einer Recherche, die unter der Leitung von Forensic Architecture und ihrer Schwesterorganisation Forensis durchgeführt wurde. Das Border Violence Monitoring Network, Bellingcat Global Authentication Project, Amnesty International Crime Evidence Lab, Alarm Phone Aegean, Aegean Boat Report, Refugee Support Aegean, Legal Centre Lesvos, HIAS Greece und mehrere Universitäten haben die Recherche unterstützt.
386 der Vorfälle wurden um die Region der Insel Lesbos registriert, 194 Fälle ereigneten sich von oder vor der Küste von Samos, 126 um Chios, 120 um Kos, 89 um Rhodos und 86 Drift-backs fanden im restlichen Dodekanes-Gebiet statt.
Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex war in zumindest 122 dieser Fälle direkt involviert. Interne Aufzeichnungen der Agentur selbst belegen, dass man innerhalb von Frontex über weitere 417 Fälle Kenntnis hatte und diese durch die falsche Codierung „prevention of entry“ – „Einreiseverhinderung“ – aktiv vertuschte. Einträge, in denen die Anzahl der Boote mit „Null“ registriert wurde, lassen nach Abgleich mit Angaben der türkischen Küstenwache zu Personen, die schwimmend ankamen, darauf schließen, dass diese Schutzsuchenden von der griechischen Küstenwache ins Meer geworfen wurden. In anderen Fällen wurden „Einreiseverhinderungen“ einer bestimmten Anzahl von Booten von Frontex erfasst und kurz darauf dieselbe Anzahl von Booten in türkischen Gewässern registriert. In einem Fall zeigen Drohnenaufnahmen der türkischen Küstenwache, dass die griechischen Behörden eine Menschengruppe auf einer Felseninsel ausgesetzt und zurückgelassen hat.
In drei Pushback-Fällen war das deutsche NATO-Kriegsschiff FGS Berlin vor Ort.
In 26 Fällen wurden Personen von der griechischen Küstenwache ins Meer geworfen. Sie verfügten über keinerlei Schwimmhilfen. In zwei dieser Fälle wurden die Personen in Handschellen aufgefunden. Elf Personen ertranken im Zuge eines Pushbacks, mindestens vier weitere wurden vermisst.
Die Informationen stammen unter anderem aus der Frontex-internen JORA-Datenbank (Joint Operations Reporting Application), die in geschwärzter Form der Medienorganisation Lighthouse Reports zugänglich gemacht wurde. Weitere Quellen sind die Aufzeichnungen von Alarm Phone und Aegean Boat Report, die Koordinaten und Fotos von Geflüchteten zugesendet bekommen, die Website der türkischen Küstenwache, die Berichte über treibende Boote dokumentiert und veröffentlicht, sowie zusätzlich zusammengetragene Informationen von Beobachter:innen, Medien, Aktivist:innen und Untersuchungen von Bellingcat, Lighthouse Reports, dem Spiegel, BBC, Al Jazeera und der New York Times.
Die gesammelten Bilder, Videos und GPS-Positionen wurden verifiziert, miteinander abgeglichen und zeitlich und geografisch eingeordnet.
Auch unter Geflüchteten scheint mittlerweile gut bekannt zu sein, welche Gefahren eine Flucht nach Griechenland birgt. Das zeigt sich durch die Anzahl jener, die versuchen, von der Türkei aus nach Italien zu gelangen, und somit quasi die gesamte Ägäis durchqueren. Laut Angaben von UNHCR waren das seit 2020 mindestens 21.346 Personen.
In einem 2020 im dänischen Fernsehen ausgestrahlten Bericht erzählte der Leiter eines dänischen Patrouillenbootes, dass 33 Personen gerettet wurden, bevor ein Funkbefehl aus dem Hauptquartier der Frontex-Operation Poseidon einging, dass die Personen zurück in das Schlauchboot gesetzt und aus griechischen Gewässern gebracht werden sollten. Der für die Militärbeteiligung zuständige Oberleutnant bestätigte den Vorfall.
Auch ein Fall, der sich erst diesen Monat ereignet hat, zeigt, welche Folgen das Vorgehen der Grenzbehörden hat. Am 8. Juli starb eine Frau auf Chios an Erschöpfung, nachdem sie sich fast zehn Tage auf der Insel versteckt hatte, aus Angst in die Türkei gebracht zu werden. Teile der Gruppe, mit denen sie die Insel erreicht hatte, wurden bis jetzt nicht entdeckt.
Viele der Gebiete, in denen die Küstenwache aktiv ist, sind für die Zivilbevölkerung unzugänglich. Aktivist:innen, Journalist:innen und Rettungskräfte, die über Menschenrechtsverletzungen berichten, werden von den Behörden kriminalisiert und eingeschüchtert.
Die griechische Regierung behauptet, dass ihre „wirksame Grenzüberwachung“ unter voller Achtung des internationalen Rechts und der europäischen Werte erfolge. Pushback-Vorwürfe seien demnach Propaganda der türkischen Regierung.
Folgend auf sich häufende Vorwürfe, internationale Kritik und Druck durch die Europäische Kommission richtete Griechenland im Jahr 2021 schließlich in der nationalen Transparenzbehörde einen unabhängigen Mechanismus zur „Überwachung der Einhaltung der Grundrechte“ ein.
Neben den bereits vorhandenen Informationen aus journalistischen Untersuchungen, Aufzeichnungen von NGOs und Interviews mit Betroffenen forderte die Transparenzbehörde zusätzlich Unterlagen an, darunter anonyme Zeugenaussagen von Opfern, aufgezeichnet durch UNHCR, sowie Dokumentationen von Border Violence Monitoring Network und Aegean Boat Report.
Die Untersuchungen der Behörde dauerten vom 15. November 2021 bis zum 29. März 2022 mit dem Ergebnis, dass keine Beweise für systematische, illegale und gewaltsame Abschiebungen durch die griechischen Sicherheitsbehörden gefunden wurden. Kritiker:innen zweifeln an diesem Resultat. Der Leiter der Transparenzbehörde, Angelos Binis, soll ein enger Freund des griechischen Ministerpräsidenten, Kyriakos Mitsotakis, und damit möglicherweise befangen sein.
Auch die intransparente Arbeitsweise sorgte für Unmut. Weder die angewandte Methodik noch die verwendeten Daten oder Ergebnisberichte wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Erst auf Druck durch Organisationen wie Amnesty International oder der Hellenic Human Rights Association, veröffentlichte die Behörde die Untersuchungen im Mai 2022 in einer ersten Version, ohne die persönlichen Daten von einigen Informant:innen unkenntlich zu machen.
Wessen Narrativ der Bericht abbildet, lässt sich klar an der Liste der befragten Personen ablesen. Laut der griechischen Medienseite omniaTV arbeiten 26 der befragten Personen für die Polizei oder die Küstenwache, 21 Personen sind in der Schifffahrts- und Fischereiindustrie tätig oder in lokalen Wirtschaftsverbänden aktiv, 10 Personen sind in leitender Funktion in christlichen oder muslimischen Verbänden, 3 im „Migrationsmanagement“. Eine der befragten Personen arbeitet für eine NGO, die im Geflüchtetenlager Kara Tepe aktiv ist. Nur vier der befragten Personen sind selbst Geflüchtete. Teile der Untersuchung wurden mit Unterstützung der griechischen Polizei durchgeführt – also gemeinsam mit jener Behörde, gegen die sich Teile der Vorwürfe richten.
Quellen:
https://aegean.forensic-architecture.org/
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165241.asylrecht-schuld-der-kuestenwache.html