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Olaf-Bericht: Frontex vertuschte auch Pushbacks im zentralen Mittelmeer

Die Untersuchungen des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung Olaf gegenüber Frontex haben bereits weitreichende Folgen nach sich gezogen. Schon bevor Anfang dieses Jahres bekannt wurde, dass die Antikorruptionsbehörde gegen die Europäische Grenz- und Küstenwache ermittelt hat, berichtete ein Rechercheteam, Frontex wisse über illegale Pushbacks in der Ägäis Bescheid und dulde diese oder sei sogar indirekt an solchen beteiligt.

Der Bericht, der lange Zeit weder Medien und Öffentlichkeit noch den Mitgliedern des Europäischen Parlaments zugänglich war, sorgte bereits als noch keine Details bekannt waren mutmaßlich für Rücktritt des ehemaligen Frontex-Generaldirektors Fabrice Leggeri.

Nun belegen neue Informationen aus dem jüngst veröffentlichten Olaf-Bericht, dass Frontex auch über Menschenrechtsbrüche im zentralen Mittelmeer bescheid wusste. In einem Spiegel-Artikel vom 13. Oktober 2022 wird beispielhaft ein Fall vom 10. April 2020 beschrieben. Ein Frontex-Überwachungsflugzeug soll vier Boote von Flüchtenden, die von Libyen aus auf Malta zusteuerten, gesichtet haben.

Aufgrund der Luftraumüberwachung, die in den vergangenen Jahren immer weiter ausgebaut wurde, konnte der Vorfall vom 10. April live im Frontex-Hauptquartier in Warschau beobachtet werden. Intern sei betont worden, dass die Personen auf den Booten keine Rettungswesten trugen.

Statt die Menschen in Seenot zu retten, versorgten die dortigen Behörden einen Teil der Gruppe mit Wasser und schickten sie weiter nach Sizilien. Die übrigen Personen wurden, so ein Bericht der New York Times, mit Fischkuttern eines maltesischen Unternehmens gegen ihren Willen zurück nach Libyen gebracht. Über die menschenunwürdige Situation in Libyen hat der Investigativjournalist Ian Urbina im Dezember 2021 für den New Yorker berichtet. In Tripolis angekommen sollen fünf der Menschen tot an Bord aufgefunden worden, sieben sollen davor ertrunken sein.

Laut Spiegel-Bericht wollten die Beamten, die vom Lagezentrum aus die Situation mitverfolgten, bereits im April 2020 einen sogenannten Serious Incident Report der vierten Kategorie ausfüllen. Kategorie vier beschreibt Situationen, die mutmaßlich gegen Grundrechte nach europäischem oder internationalem Recht verstoßen im Bezug auf Zugang zu internationalem Schutz oder beobachtete mögliche Verletzung vor allem gegen das Recht auf Menschenwürde, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Asyl, das non-refoulement-Prinzip und das Prinzip der Antidiskriminierung, Kinderrechte und Recht auf wirksamen Rechtsbehelf.

Ein solcher Serious Incident Report hätte eine Untersuchung der Frontex-Grundrechtsbeauftragten zur Folge gehabt.

Der Bericht wurde als solcher mehrmals abgelehnt, zuletzt im Mai 2020, und bekam die Kategorie 2 zugeordnet. Die Grundrechtsbeauftragte Inmaculada Arnaez wurde nicht informiert. Kategorie 2 meint Vorfälle, die innerhalb von Frontex-Aktivitäten/gemeinsamen Operationen stattfinden und nicht mit Frontex-Mitarbeiter:innen oder anderen Teilnehmer:innen gemeinsamer Operationen in Verbindung stehen.

Frontex‘ Aktivität im zentralen Mittelmeer beschäftigt Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen und Privatpersonen schon lange. Erst kürzlich gab es erneute Vorwürfe gegen die Agentur durch Human Rights Watch. Seit 2014 sind circa 25.000 Menschen bei der Überquerung des zentralen Mittelmeers, der tödlichsten Migrationsroute der Welt, gestorben. Statt selbst Rettungsmissionen durchzuführen, finanziert die EU Frontex‘ Überwachung aus der Luft und das Training und die Ausstattung der sogenannten libyschen Küstenwache, die Menschen zurück nach Libyen “pullt”.

Die Überwachung aus der Luft ermöglicht es Frontex, sobald sie ein Boot sichten, alle umliegenden Rettungsleitstellen zu informieren. Eine der Leitstellen befindet sich in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Medienberichte aus der Vergangenheit zeigen, dass die Europäische Grenzschutzagentur so gezielt Informationen an die libyschen Behörden weitergeben kann. Beamte sollen sogar Koordinaten per WhatsApp an libysche Offiziere geschickt haben. Unterdessen werden zivile Seenotrettungsorganisationen eigenen Angaben zufolge nicht informiert, auch wenn sie sich in der Nähe eines Bootes befinden.

Nach einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes dürfen Schutzsuchende nicht nach Libyen gebracht werden. Im Fall vom 10. April 2020 passierte aber genau das durch maltesische Behörden, während Frontex-Mitarbeitende dabei zusahen. Laut Olaf hätte es klare Hinweise auf Grundrechtsverletzungen gegeben, bei denen die Grundrechtsbeauftragte involviert hätte werden müssen. Und laut Spiegel handelt es sich dabei auch um keinen Einzelfall.

https://www.spiegel.de/ausland/eu-untersuchungsbericht-frontex-vertuschte-auch-pushback-nach-libyen-a-3fdcc994-b84d-476f-9676-c7a9533c7443

https://www.statewatch.org/media/documents/news/2016/aug/frontex-serious-incident-reporting.pdf

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