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Pushbacks am Grenzfluss Evros und die Rolle von Frontex

Vergangenen Samstag wurde bei einem Schusswechsel am Grenzfluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei eine Frau tödlich getroffen. Die genauen Ereignisse sind ungeklärt. Die Evros-Region ist bekannt dafür, dass Geflüchtete dort Gewalt erfahren, verschwinden und sterben. Überwacht wird sie unter anderem durch die Europäische Grenz- und Küstenwachenagentur Frontex.

Journalist:innen des NZZ-Magazin haben im Zuge einer Recherche mit vielen Menschen gesprochen und Aussagen mit Datenbanken von Menschenrechtsorganisationen abgeglichen. Sie sagen, die Gewalt, die die Menschen in dieser Region erfahren, ist systematisch.

Sie schreiben von Lagern – verlassenen Autogaragen und Hühnerbatterien – , die nirgendwo verzeichnet sind, von Beamten in Uniformen ohne Logos und Sturmhauben. Geflüchtete berichten, dass sie nachts in fensterlosen Vans ans Ufer gebracht werden, Schuhe und oft Kleider ausziehen müssen und systematisch mit Stöcken und Eisenstangen geschlagen und auf Boote getrieben werden. In der Mitte des Flusses werden sie ins Wasser gestoßen.  

Wenn die Schutzsuchenden Glück haben, werden sie von Menschen wie einem durch das NZZ-Magazin interviewten Taxifahrer aufgegriffen. Er hat ein Zweithandy, mit dem die Geflüchteten ihre Verwandten erreichen können. Haben sie Pech, werden sie am anderen Ufer von türkischen Grenzschutzeinheiten erwartet und zurück in den Fluss getrieben.

Von den Verletzungen der Menschen erzählt auch eine Krankenpflegerin aus Edirne. Manche kommen mit Tritten und gebrochenen Fingern davon. Sie berichtet aber auch von Schusswunden und Vergewaltigungen.

2020 lag die Zahl jener Menschen, die auf der Flucht in der Region rund um den Grenzfluss Gewalt erfahren laut des Border Violence Monitoring Network bei 89 Prozent. Einem neuen unveröffentlichten Bericht zufolge sollen es mittlerweile 98 Prozent sein. Mindestens 17 Personen sollen im vergangenen Jahr in dem Gebiet gestorben sein, 39 Personen wurden als vermisst gemeldet.

Ein Geflüchteter, mit dem die Journalist:innen gesprochen haben, berichtet von seinen vielzähligen Versuchen, auf diesem Weg nach Europa zu gelangen. Jedes Mal wurde er gefasst und nachts zurück an die Grenze gebracht, bevor er seinen Antrag auf Asyl stellen konnte. Diese Praktiken – Pushbacks – sind illegal. Sie verstoßen gegen das Recht auf ein Asylverfahren, das Non-Refoulement-Prinzip, das in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben ist, sowie Artikel 18 und 19 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Natalie Gruber, Gründerin der NGO Josoor befragte die Bewohner:innen aus 22 türkischen Dörfern entlang der Grenze. Laut ihr werden im Winter jeden Monat bis zu 17.000 Menschen zurückgeschoben, im Sommer soll es doppelt bis dreimal so viele Pusbacks geben.

Die Evros-Region ist, so der NZZ-Bericht, eine Art „toter Winkel“. Es gibt zwar eine Vielzahl an Augenzeugenberichten und Fotos von Verletzungen, aber eindeutige Videoaufnahmen, die die Aussagen stützen, fehlen. Das soll unter anderem daran liegen, dass Geflüchteten ihre Mobiltelefone abgenommen werden. Die Tatsache, dass das Gebiet militärisches Sperrgebiet ist, erschwert die Recherche. Die Überwachung der Region wird durch die EU finanziert. Das Geld fließt in Zäune, Schallkanonen, Bewegungssensoren, Drohnen und Zeppeline. Die Daten werden an griechische Behörden sowie an Frontex übermittelt.

Seit 2010 ist die Agentur in der Region präsent. Anfänglich erhielten 175 Beamt:innen den Auftrag, die lokalen Grenzschützer:innen zu unterstützen. 2020 wurden zusätzlich 100 Frontex Mitarbeiter:innen aus 22 Staaten an den Evros entsandt.

Unter anderem auch aus der Schweiz. Die Journalist:innen des NZZ-Magazin haben beim Schweizer Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit nach einem Statement zu den Pushbacks in der Evros-Region nachgefragt. Offiziell weiß niemand etwas darüber. Die Anfrage zur Einsicht von Einsatzplänen und Berichten Schweizer Grenzschützer:innen wurden genauso wie die Sichtung von Protokollen der Schweizer Vertretung im Frontex-Verwaltungsrat abgelehnt. Die „NZZ am Sonntag“ hat daraufhin ein Verfahren, gestützt auf das Öffentlichkeitsrecht, zur Einsicht in ebendiese Dokumente angestrebt. Diese wurde zwar vom Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit vereinzelt übermittelt, aber fast komplett geschwärzt. In der Schweiz ist die Grenzschutzagentur gerade Thema vieler öffentlicher Debatten, weil die Bevölkerung Mitte Mai in einem Referendum über die Beteiligung am Ausbau von Frontex, inklusive einer Aufstockung des Beitrags auf rund 60 Millionen Euro abstimmt.

Die Europäische Grenzschutzagentur steht unter Druck, gegen die Gewalt und die Pushbacks vorzugehen. Eine Maßnahme sind sogenannte „Serious Incident Reports“. Die Plattform „FragDenStaat“ hat einige dieser Berichte angefordert. Laut ihnen wurde keine von den Grundrechtsverletzungen, die in Augenzeugeninterviews geschildert wurden, von Frontex erfasst. Geht man von den Berichten aus, ist die Agentur nie in Situationen, in denen Geflüchtete Gewalt erfahren, involviert, oder es wird aktiv weggeschaut. Leggeri hat angesichts derartiger Vorwürfe erklärt, Frontex würde lediglich zur Grenzsicherung beitragen, die griechischen Beamten trügen aber die Verantwortung über die Grenzkontrolle.

Quellen:

https://www.derstandard.at/story/2000134990481/medien-am-grenzfluss-evros-soll-frau-erschossen-worden-sein

https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/gewalt-an-der-der-eu-aussengrenze-was-weiss-frontex-ld.1679810

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