„Die Luftüberwachung leistet einen direkten und bedeutenden Beitrag zum Abfangen von [Geflüchteten] auf See. Unsere statistische Analyse stützt die Schlussfolgerung, dass der Ansatz der EU nicht darauf abzielt, Menschen in Not zu retten, sondern zu verhindern, dass sie das EU-Gebiet erreichen.“
Human Rights Watch
Ein Bericht der Organisationen Human Rights Watch und Border Forensics deutet erneut darauf hin, dass die Luftüberwachung der Europäischen Grenz- und Küstenwachenagentur Frontex darauf ausgelegt ist, die sogenannte libysche Küstenwache bei Pull-Backs zu unterstützen.
Dem Bericht zufolge sind im Jahr 2021 mehr als 32.400 Personen von der sogenannten libyschen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht worden. In circa einem Drittel der Fälle erleichterten Daten, die durch die Frontex-Luftüberwachung gewonnen wurden, das Verorten der Personen. Heuer waren es bis November bereits über 20.700 Personen.
Innerhalb der letzten Jahre hat sich Frontex‘ Verlagerung auf den Luftraum immer deutlicher gezeigt. (Frontex konzentriert sich zunehmend auf Überwachung aus der Luft, Frontex stellt weitere 84 Millionen Euro für Überwachung aus der Luft zur Verfügung, Guardia Civil und Frontex überwachen Balearen aus der Luft, Einsatz einer Heron 1 Drohne in Griechenland geplant, Frontex’ Luftüberwachung) Zwischen 2018 und 2021 haben sich die Flugstunden im Luftraum über dem zentralen Mittelmeer mehr als verdoppelt. Eine Verordnung aus dem Jahr 2016 erlaubt es der Agentur, selbst Equipment zu leasen oder zu kaufen. Seitdem hat Frontex mehrere Verträge mit unterschiedlichen Konzernen abgeschlossen. Neben der Heron-I Drohne, die in Malta stationiert ist, sollen auch mehrere bemannte Flugzeuge von Malta und Italien aus starten.
Die Heron-I wird vom maltesischen Militärflughafen aus betrieben und schickt Daten nahezu live in das Frontex-Hauptquartier in Warschau, wo anhand dieser weitere Entscheidungen in einer ständigen Feedbackschleife nach Malta kommuniziert werden.
Die Überwachung ist mutmaßlich zentraler Aspekt der europäischen Strategie des Migrationsmanagements, bei der Personen davon abgehalten werden sollen, überhaupt erst auf europäischem Boden anzukommen. Die Zusammenarbeit mit den libyschen Behörden widerspricht dem sogenannten Non-Refoulement-Prinzip, das besagt, dass Personen nicht in Länder zurückgebracht werden dürfen, in denen sie schwere Menschenrechtsverletzungen erwarten.
Der Bericht von Human Rights Watch und Border Forensics erklärt anhand der Vorfälle eines Tages, des 30. Juli 2021, welche Schlüsse sie aus den gesammelten Daten gezogen haben.
Auch drei Schiffe ziviler Seentorettungsorganisationen, sowie mehrere private Handels- und Versorgungsschiffe haben sich an jenem Tag in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste aufgehalten. Daten unabhängiger Flugverfolgungsdienste zufolge haben sich außerdem mindestens fünf Flugzeuge und eine Drohne im relevanten Luftraum befunden. Auf die Flugbahnen dreier Flugzeuge gibt es keinen öffentlichen Zugriff, daher lassen sich keine Schlüsse über ihre Rolle ziehen.
Auch das von Sea-Watch und Humanitarian Pilots Initiative betriebene Luftaufklärungsflugzeug Seabird ist am 30. Juli 2021 eine Mission geflogen.
Die Frontex-Drohne Heron-I hat den maltesischen Flughafen bereits kurz vor 2:00 in der Früh verlassen. Zu dieser Zeit starten auch die meisten Boote von der libyschen Küste und es ist wahrscheinlicher, dass sie noch in libyschen Gewässern gesichtet werden.
Frontex gibt keine Auskunft über Flugpläne. Analysen der Flugbahnen deuten aber darauf hin, dass die Heron-Drohne Suchmuster nahe der libyschen Küste abfliegt. Wann immer sie von ihren üblichen Mustern abweicht, kann davon ausgegangen werden, dass sie genauere Nachforschungen anstellt. Am 30. Juli gab es mehrere solcher Abweichungen.
Einige Fälle von Pull-Backs durch die libyschen Behörden lassen sich anhand dieser Abweichungen, der Aufnahmen der Seabird-Crew, der Aussagen der befragten Personen und öffentlicher Dokumente rekonstruieren.
Frontex-internen Daten zufolge wurden insgesamt 5 Boote durch die Agentur gesichtet. Alle diese Boote wurden durch die libyschen Behörden abgepasst und die Menschen zurück nach Libyen gebracht. Ein Dokument des EAD, des Europäischen Auswertigen Dienstes, listet ebenfalls fünf Fälle auf, in denen Boote abgepasst wurden. Obwohl die Daten nicht vollständig übereinstimmen, bestehen signifikante Überlappungen.
Ein Fall, der ein Schlauchboot mit circa 120 Personen betrifft, taucht in allen Auflistungen auf. Die Organisation Alarm Phone benachrichtigte die italienischen und die maltesischen Behörden sowie Seenotrettungsorganisationen bereits in den frühen Morgenstunden über das Boot. Einige Stunden später erhielten die Personen auf dem Boot einen Anruf der libyschen Küstenwache, die nach ihren Koordinaten fragte. Eine Möglichkeit ist, dass die italienischen oder maltesischen Behörden die Telefonnummer an Libyen weitergegeben haben. Auch die Heron-Drohne befand sich um die Mittagszeit an der mutmaßlichen Position des Bootes. Ungefähr zwei Stunden später wurde ein leeres Schlauchboot von der Seabird-Crew gesichtet. Die libysche Küstenwache berichtete auf Facebook über die Operation und ein Küstenwachen-naher Twitter-Account veröffentlichte ein Foto von 120 Personen, die ein Schiff der Küstenwache an diesem Tag aufgegriffen hatte.
Aus Gesprächen mit vier Personen, die sich eigenen Angaben zufolge auf vier unterschiedlichen Booten, nicht aber auf jenen der bereits beschriebenen Fälle befanden lässt sich schließen, dass zusätzlich zu den von Libyen offiziell dokumentierten noch mindestens vier weitere Boote abgepasst wurden. Alle vier der befragten Personen berichten von Gewalt durch die libyschen Behörden. Einer berichtet von Schlägen bis zur Bewusstlosigkeit. In zwei berichteten Fällen versuchten Personen ins Meer zu springen, um nicht an Board der Küstenwache zu müssen.
Das Muster, das sich aus den Erzählungen ergibt, ist eindeutig: Ein Luftfahrtzeug befindet sich in der Nähe, bevor ein Schiff der libyschen Küstenwache eintrifft und die Personen zurück in „Detention-Centers“ bringt, wo sie unglaublicher Gewalt ausgesetzt werden.
Eine Anfrage von Human Rights Watch zur Besichtigung des Frontex-Kontrollraums wurde genau wie die Anfrage, Mitarbeitende der Agentur zu befragen, abgelehnt. Von 3.092 möglicherweise relevanten Dokumenten übermittelte Frontex lediglich 86, von denen viele zu großen Teilen geschwärzt wurden. Informationen spezifisch zum 30. Juli gab die Agentur nicht frei, der Einspruch diesbezüglich wurde zurückgewiesen. 1.166 Dokumente zu E-Mail-Verkehr und 18 Dokumente zu Telefonaten und Textnachrichten zwischen der Agentur und den libyschen Behörden im Zeitraum von Jänner 2021 bis August 2022 wurden von Frontex ermittelt. Keines davon wurde auf Anfrage freigegeben.
Die Intransparenz der Agentur wird durch die VERORDNUNG (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates gedeckt und unabhängige Kontrolle wird so erschwert oder behindert.
Über die menschenverachtenden Zustände in libyschen Geflüchtetenlagern hat Ian Urbina in einer eindrücklichen Recherche berichtet. Auch die „Fact Finding Mission“ des UN-Menschenrechtsrates im Juni 2022 kam zu dem Schluss, dass es „hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass in Libyen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Migranten begangen werden”, darunter “Mord, Verschwindenlassen, Folter, Versklavung, sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und andere unmenschliche Handlungen … in Verbindung mit ihrer willkürlichen Inhaftierung”. Die Mission verwies auf “[…] Beweise für die Zusammenarbeit zwischen der libyschen Küstenwache und den für die Inhaftierung zuständigen Beamten, bewaffneten Gruppen, Menschenhändlern, Schmugglern und anderen Personen, die versuchen, von diesem System zu profitieren.”
„Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Italien 2012 wegen des Abfangens von Geflüchtetenbooten und der Rückführung von Menschen nach Libyen verurteilte, macht deutlich, dass die EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten niemanden sicher dorthin zurückschicken können. Infolgedessen hat die EU im Laufe der Jahre eine Infrastruktur aufgebaut und Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass libysche Akteure die Drecksarbeit erledigen.“
Human Rights Watch
Seit 2015 hat die EU 700 Millionen Euro bereitgestellt, um „die Migration auf der zentralen Mittelmeer-Route zu bewältigen“. Mindestens 87 Millionen Euro davon wurden für den Grenzschutz ausgegeben, Teile davon zur Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache. Mit europäischen Geldern wurden die libyschen Streitkräfte von Italien ausgebildet, ausgerüstet und koordiniert. Eine Such- und Rettungszone (SAR-Zone) sowie ein Rettungskoordinationszentrum (MRCC – Maritime Rescue Coordination Center) wurden eingerichtet.
Gleichzeitig wurden europäische Schiffe nach und nach von der libyschen Küste abgezogen. Auch die italienischen und maltesischen Behörden haben seit 2017 ihre Tätigkeit in der Koordinierung und Durchführung von Seenotrettung reduziert und gleichzeitig die Arbeit von zivilen Seenotrettungsorganisationen behindert. Rechtliche Verfahren wurden eingeleitet, Schiffe blockiert, Ausschiffung nicht genehmigt und Flugverbote verteilt. So darf beispielsweise auch die Seabird aktuell nicht über die libysche SAR-Zone fliegen, obwohl Libyen eigentlich keine Berechtigung für derartige Verbote hat.
Teil der Strategie ist auch, die Abpassungen durch die libyschen Behörden als Rettungen auszugeben.
Die im Zuge der Recherche erstellten Statistiken deuten zwar auf keinen Zusammenhang der gesteigerten Luftüberwachung und der Todesrate im Mittelmeer hin. Es gibt allerdings einen moderaten und statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Verlagerung auf den Luftraum und die Anzahl der Pull-Backs durch die sogenannte libysche Küstenwache.
Die Luftüberwachung im Sinne der Seenotrettung einzusetzen wäre einfach, so Human Rights Watch. Frontex und die nationalen Leitstellen könnten alle Schiffe in der Nähe eines Bootes in Seenot alarmieren, wobei die Auslegung der Notlage hier breit gefasst alle überfüllten und seeuntüchtigen Boote in offenen Gewässern einschließen sollte. Zusätzlich sollten sie in den Gebieten, die sie per Luftüberwachung kontrollieren, auch selbst Schiffe einsetzen, die schnell auf Notrufe reagieren können und jene Organisationen, die diese Arbeit bereits leisten, nicht darin behindern. Wenn ein Luftfahrtzeug Personen in Seenot ortet, sollte es nach Möglichkeit vor Ort bleiben und die Situation überwachen und dokumentieren.
Seit 2014 sind mindestens 25.313 Personen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, ertrunken. Von einer um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer ist auszugehen. Angesichts dessen sollte es oberste Priorität der EU und von Frontex sein, Menschenleben zu retten. Dem Bericht zufolge scheint dem nicht so zu sein. Stattdessen scheint die Frontex-Überwachung darauf ausgelegt zu sein, möglichst viele Abpassungen und Pull-Backs durch die sogenannte libysche Küstenwache zu ermöglichen.
Mit der Verlagerung ihrer Aktivität auf den Luftraum weisen die Agentur und die EU die Verantwortung von sich, machen sich aber zu Komplizinnen der Verbrechen der libyschen Behörden.
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