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Olaf-Ermittlungen – Spiegel veröffentlicht erste Informationen über den Bericht

Die Ermittlungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung Olaf gegen die Grenz- und Küstenwachenagentur Frontex haben bereits weitreichende Folgen nach sich gezogen. Ende April 2022 ist der langjährige Frontex-Chef Fabrice Leggeri, mutmaßlich aufgrund der Inhalte des Berichts, von seinem Amt zurückgetreten. Bis vor kurzem waren die Ergebnisse der Untersuchung weder der Öffentlichkeit noch den Medien und dem Europäischen Parlament zugänglich.

Nun veröffentlichte der Spiegel, der gemeinsam mit der Medienorganisation Lighthouse Reports und der französischen Zeitung Le Monde Zugang zu dem Bericht erlangte, wichtige Details, die nicht nur Frontex, sondern auch die Europäische Kommission belasten. Diese zahlt Griechenland hohe Beträge, um das Land beim „Migrationsmanagement“ zu unterstützen. Ylva Johansson, EU-Innenkommissarin, ist politisch für Frontex verantwortlich. Ihre öffentliche Forderung zur Beendung der Pushback-Praktiken war vergeblich. Die Gelder wurden Griechenland trotzdem nicht gekürzt und auch von einem Vertragsverletzungsverfahren hat die Kommission bislang abgesehen. Grund dafür könnte auch die Freundschaft zwischen dem Kommissions-Vize Margaritis Schinas und dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis sein. Schinas selbst hat erst kürzlich in einem Interview dementiert, dass Pushbacks an den griechischen Außengrenzen stattfinden.

In früheren Medienbeiträgen über die Ermittlungen war von drei unter Verdacht stehenden Frontex-Führungskräften die Rede. Um wen es sich dabei handelt, wurde nun durch den Spiegel bestätigt. Dass Leggeri einer davon war, stand für viele bereits fest. Auch der Name Thibauld de La Haye Jousselin fiel vereinzelt. Der ehemalige Leiter der Frontex-Abteilung für Human Resources und Rechtsangelegenheiten hat seinen Posten mittlerweile ebenfalls zurückgelegt. Dirk Vande Ryse, der Dritte der namentlich genannten, der zuvor die Leitung des Frontex-Lagezentrums inne hatte, wurde innerhalb der Agentur versetzt.

Der Olaf-Bericht basiert unter anderem auf Informationen aus privaten E-Mails und Textnachrichten des ehemaligen Frontex-Chefs, Zeug:innenberichten, Dokumenten und Videos.

Die 129 Seiten-lange Dokumentation der Ergebnisse zeigt deutlich, wie Frontex in die illegalen Pushback-Praktiken der griechischen Küstenwache involviert war. Pushbacks, menschenrechtswidrige Rückführungen von Personen, ohne ihnen ihr Recht auf einen Asylantrag zu gewährleisten, sind eine mittlerweile gut dokumentierte Maßnahme der griechischen Behörden im Umgang mit Geflüchteten. Menschen werden in Booten oder auf aufblasbaren Rettungsinseln ohne Motor an der griechisch-türkischen Meergrenze zurückgelassen. Frontex waren diese Praktiken bereits vor geraumer Zeit bekannt. Statt sie zu melden oder dagegen vorzugehen, wurden sie vertuscht und teilweise unterstützt. Eine Medienrecherche, an der auch der Spiegel beteiligt war, deckte das bereits auf. Aus dem Olaf-Bericht geht nun hervor, dass in mindestens sechs Fällen auch europäisches Steuergeld dazu verwendet wurde, Pushbacks zu finanzieren.

In einem beschriebenen Fall wird beispielhaft, wie Frontex in konkreten Situationen agierte. Anfang August 2020 wurde ein Boot mit ungefähr 30 Geflüchteten Richtung Türkei gezogen. Ein Flugzeug der Grenzschutzagentur filmte live mit und streamte die Aufnahmen in die Zentrale in Warschau. Innerhalb der Agentur war bekannt, worum es sich in diesem Fall handelte, intern wurde schon zuvor gewarnt, die griechische Küstenwache brächte die Schutzsuchenden in „Lebensgefahr“. Frontex stünde vor einem „Reputationsrisiko“. Die Agentur hätte derartige Menschenrechtsbrüche verhindern können. Stattdessen wurden Flugzeuge, die in der Ägäis patrouillierten und somit Pushbacks beobachten konnten, abgezogen und stattdessen im Bereich des zentralen Mittelmeers eingesetzt. Frontex-Mitarbeiter:innen machten diesbezüglich Aussagen gegen Leggeri und auch eine handschriftliche Notiz aus dem Herbst 2020 lässt auf diese Vorgehensweise schließen: „Wir haben unser FSA [Frontex Surveillance Aircraft] vor einiger Zeit zurückgezogen, um nicht Zeugen zu werden“.

Innerhalb der Agentur gab es immer wieder Warnungen, unter anderem vonseiten der Grundrechtsbeauftragten Inmaculada Arnaez, deren Arbeit durch bewusstes Zurückhalten von Beweismaterial erschwert wurde. Dies geht unter anderem auch aus Textnachrichten Leggeris hervor, der Arnaez mit dem Diktator Pol Pot verglich und ein von ihr geplantes Terrorregime an die Wand malte. Auch andere Stimmen innerhalb der Agentur misstrauten der Grundrechtsbeauftragten und ihrem Team. Leggeris Argwohn galt neben Arnaez auch einigen Mitgliedern der Kommission.

Anfang Juni forderte die Organisation Front-LEX die interims-Chefin der Agentur, Aija Kalanja, auf, die Frontex-Mission in Griechenland zu beenden. Das interne Regelwerk der Agentur besagt, dass Operationen einzustellen sind, wenn „schwerwiegende und anhaltende Grundrechtsverletzungen“ vorliegen. Berichte und Dokumentationen zeigen klar, dass dies in Griechenland der Fall ist. Kalnaja will die Vergangenheit laut eigenen Angaben so schnell wie möglich hinter sich lassen. Die Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden soll weitergehen, Beamt:innen der Agentur sollen zum Teil dem Kommando der Griech:innen unterstellt werden und es soll sogar noch mehr Frontex-Personal den Grenzschutz in der Ägäis unterstützten.

Den Bericht der Antibetrugsbehörde habe sie noch nicht gelesen, so Kalnaja. Darin wird aber auch klar, dass die Probleme nicht mit einem Wechsel der Führungskräfte behoben sind. So sollen Beamt:innen der Küstenwache Frontex-Mitarbeiter:innen unter Druck gesetzt haben, sollten sie Pushbacks melden wollen. Ankommende Boote würden außerdem nicht gemeldet und daher nicht registriert werden – der Spiegel nennt diese Vorgänge „ghost landings“. Um ihrem Versprechen nach Leggeris Rücktritt nachzukommen und tatsächlich die angekündigten Veränderungen innerhalb der Agentur durchzusetzen, wäre eine Auseinandersetzung mit den Rechtsbrüchen der Vergangenheit ein unabdinglicher erster Schritt für Kalnaja.

Quelle:

https://www.spiegel.de/ausland/frontex-skandal-um-pushbacks-und-fabrice-leggeri-vertuscht-verschleiert-belogen-a-6f3df3b4-8eef-4ae6-832b-237514cdb9fb

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