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Human Rights Watch wirft Frontex erneut Kooperation mit Libyen vor

Erst vergangene Woche veröffentlichte der Spiegel Informationen über den Ermittlungsbericht der Europäischen Antibetrugsbehörde Olaf zu den Vorwürfen gegenüber Frontex. Davor zeigten die Ergebnisse eines Teams rund um Forensic Architecture die Systematik rund um sogenannte Drift-Backs in der Ägäis.

Dass Pushbacks und Menschenrechtsbrüche nicht nur in griechischen Gewässern stattfinden, ist bereits lange bekannt. Immer wieder zeigten Medienrecherchen auf, wie Frontex und die EU in Operationen mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammenarbeiten. Ein Bericht von Human Rights Watch und Border Forensics, dem im Herbst eine detailliertere Analyse folgen soll, bestätigt dies nun erneut.

Laut einem Jahresbericht der UN-Migrationsbehörde wurden im letzten Jahr über 32.450 Menschen von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Welches Schicksal sie dort erwartet, ist kein Geheimnis. Menschenrechtsorganisationen, UNHCR und IOM erklärten wiederholt, dass Libyen nicht sicher ist. Schutzsuchende werden oft willkürlichen Inhaftierungen, unmenschlichen Bedingungen, Folter, Gewalt und Vergewaltigungen ausgesetzt. Auch über Todesfälle gibt es Berichte. Die Gefängnisse, in denen Geflüchtete in Libyen untergebracht werden, werden von Milizen betrieben. Über die Zustände, die dort herrschen, berichtete der Journalist Ian Urbina Ende 2021. Heuer wurden laut IOM-Angaben bereits 11.946 Personen, 977 davon zwischen dem 24. Und dem 30. Juli nach Libyen gebracht, nachdem sie auf See aufgegriffen wurden.

Die Europäische Union war massiv am Aufbau der sogenannten libyschen Küstenwache beteiligt und hat die Menschenrechtsbrüche in den vergangenen Jahren implizit unterstützt, indem europäische Schiffe abgezogen und immer mehr auf Überwachung aus der Luft gesetzt wurde. Seit Mai 2021 setzt Frontex auch von Malta aus eine Drohne ein. Die Flugmuster des Luftfahrtzeuges sind Indiz für die Kooperation von Frontex mit Libyen. Boote von Schutzsuchenden werden mutmaßlich durch Frontex gesichtet, die die Koordinaten dann mit nationalen Behörden, auch den libyschen, teilen.

Laut Angaben der Agentur gehe es bei der Überwachung um die Rettung von Menschenleben. In der Realität wird es Libyen aber erleichtert, Menschen zurückzuholen. In einem von Human Rights Watch genannten Fall vom 30. Juli 2021 wurde beispielsweise ein Boot in internationalen Gewässern in der maltesischen Such- und Rettungszone abgefangen, nachdem eine Frontex-Drohne die Menschen in Seenot mutmaßlich zweimal gesichtet hat. Ein Schiff der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch, das sich in der Nähe aufhielt, wurde nicht verständigt. Zwei weitere Boote und insgesamt mindestens 228 Personen wurden am selben Tag nach Libyen zurückgepullt.

Frontex selbst erklärt, man kenne die Bedrohung und die europäischen Außengrenzen würden „rund um die Uhr“ überwacht. Eine umfassende Risikoanalyse biete einen europaweiten Überblick über die Grenzkontrolle und das Migrationsmanagement. Dafür würden eigene Überwachungsmittel und der Empfang, die Integration, die Analyse und die Verbreitung von Informationen aus einer Vielzahl von Quellen einschließlich der nationalen Grenzbehörden, verwendet. Teil davon sei auch die maritime Luftüberwachung (MAS – Maritime Aerial Surveillance), also der Einsatz von Überwachungsflugzeugen und -drohnen, die Video- und andere Daten von den Außengrenzen in die Zentrale der Agentur in Warschau und an nationale und europäische Behörden übermitteln.

Anfang des Jahres berichtete InfoMigrants über eine Sonderausgabe der italienischen Zeitung Altreconomia, in der es um den Einsatz künstlicher Intelligenz zur „Migrationskontrolle“ ging. Die Autor:innen erklärten, dass solche Tracking-Technologien ein Weg der EU seien, sich aus der Verantwortung für die Gewährung von Asyl nach internationalem Recht zu ziehen. Italienische Unternehmen hätten die sogenannte libysche Küstenwache mit Wissen und Hardware direkt oder indirekt dabei unterstützt, Geflüchtete nach Libyen zurückzubringen. Auf Anfrage versicherte Frontex, nie mit den libyschen Behörden oder der libyschen Küstenwache kooperiert zu haben und, dass die oberste Priorität bei Such- und Rettungsaktionen das Retten von Menschenleben sei. „Jedes Mal, wenn ein Frontex-Flugzeug ein Boot in Seenot entdeckt, [werden] sofort die zuständigen Seenotrettungs-Koordinationszentren in der Region alarmiert. Das sind Italien und Malta sowie Libyen und Tunesien, wenn sich das Boot in deren Such- und Rettungsgebieten befindet. Alle vier sind international anerkannte MRCCs (Maritime Rescue Coodination Centers)“.

Die Grenzschutzagentur plant auch weiterhin, die Überwachung aus der Luft auszubauen. Nachdem eine Ausschreibung zur Nutzung von Hubschraubern vor zwei Jahren fehlgeschlagen war, soll nun ein erneuter Versuch starten, so Interimsdirektorin Aija Kalnaja in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der EU-Abgeordneten Özlem Demirel. Diese sollen in Gebieten zum Einsatz kommen, in denen es keine geeigneten Landeplätze für Flugzeuge und Drohnen gibt oder wo „weder mit einem bemannten noch mit einem ferngesteuerten Flugzeug“ geflogen werden kann. Diese Anforderungen treffen zum Beispiel auf das Gebiet um den Grenzfluss Evros zu. Die Grenzfluss-Region war schon oft Schauplatz von Medienberichten über völkerrechtswidrige Pushbacks. In diesem Jahr sollen bereits 30 Personen tot aufgefunden worden sein. Spätestens Ende des Jahres will Frontex die erneute Ausschreibung veröffentlichen. Bis zum kommenden Sommer könnte ein Rahmenvertrag unterzeichnet werden.

Auch die libysche Küstenwache zeigt Interesse an Hubschraubern. Bislang verfügt Libyen über keine eigenen Luftfahrzeuge, allerdings gab es vor zwei Jahren bereits ein Treffen mit Airbus, einem der führenden europäischen Hubschrauber-Hersteller. Der damalige libysche Innenminister (heutiger Premierminister des abtrünnigen Abgeordnetenrates in Tobruk) Fathi Baschagha bestellte insgesamt zehn Airbus-Hubschrauber. Ob und wann diese geliefert werden, ist nicht bekannt. Auch wer diese im Endeffekt bekommen soll, ist aufgrund der instabilen politischen Situation in Libyen unklar.

Im Jänner 2022 berichtete InfoMigrants über einen vertraulichen Bericht vom Leiter der Operation Irini, der EU-Mission zur Durchsetzung des Waffenembargos gegen Libyen, der an EU-Beamte verteilt und von der Associated Press eingesehen wurde. Darin wurde dazu aufgerufen, die libysche Küstenwache weiterhin zu unterstützen, trotz bestehender Bedenken und Kritik hinsichtlich des Umgangs mit Schutzsuchenden.

Von 2015 bis 2021 wurden rund 455 Millionen Euro aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika an Libyen gezahlt. Große Teile dieser Gelder wurden zur Finanzierung von Migrations- und Grenzmanagement für die Ausbildung von Mitarbeitern der sogenannten libyschen Küstenwache und die Instandsetzung von Booten verwendet. Zusätzlich wurden Satellitentelefone und Uniformen bereitgestellt und in den nächsten zwei Jahren sollen drei neue Patrouillenschiffe angeschafft werden. Eine Untersuchung durch Associated Press aus dem Jahr 2019 ergab, dass große Summen der EU-Gelder an Netzwerke von Milizen und Menschenhändlern geflossen sind.

Quellen:

https://www.hrw.org/news/2022/08/01/eus-drone-another-threat-migrants-and-refugees

https://www.barrons.com/articles/eu-drone-helps-libya-return-migrants-to-abuse-hrw-01659376506?tesla=y

https://www.infomigrants.net/en/post/42328/human-rights-watch-accuses-frontex-drones-of-posing-a-threat-to-migrants-and-refugees

https://www.jungewelt.de/artikel/431601.eu-abschottung-frontex-will-hubschrauber.html

https://www.infomigrants.net/en/post/38117/eu-plans-further-cooperation-with-libya-on-migrants-despite-criticism

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